Vor 30 Jahren, genau am 8.Dezember 1988, bebte die Erde in Armenien. Eine Naturkatastrophe mit verheerenden Folgen. Rund 25.000 Tote, noch mehr Verletzte und Obdachlose. Mehrere Tausend leben heute noch in Gyumri in Notunterkünften ohne fließendes Wasser und Strom.
Unter den Kindern, die überlebten und gerettet werden konnten, war Karen Barseghyan. Mehrere Tage lag er unter den Trümmern. Seine Gedanken in dieser Situation zwischen akuter Bedrohung und Hoffnung auf Rettung hat er, auch die Vorgeschichte dazu, zu Papier gebracht. Nun gibt es von diesem Text auch eine deutsche Übersetzung.
Karen Barseghyan ist Mitglied eines Künstlerkollektivs in Gyumri. Seine Werke sind im Berlin Art Hotel in Gyumri zu sehen. Das Copyright über das Büchlein mit den vollständigen Texten in Armenisch und in Deutsch liegt beim Belin Art Hotel. Wir danken diesem für die Erlaubnis, einen Auszug vom deutschen Text präsentieren zu dürfen.
KAREN BARSEGHYAN: DIE THERMOSKANNE
"In den Wänden begannen sich Risse zu bilden… Ich betrachtete sie verdutzt … Durch die Risse kamen Staubwolken… Verwirrt und mit weit aufgerissenen Augen schaute ich zu … Ich verstand überhaupt nicht, was da geschah. „Nichts wie weg ins Wohnzimmer!“… Ich rannte los … Die Dielenbretter flogen durch die Luft … „Herrje, was ist da los?“, so ich zu mir … Ich rannte zurück, nahm das Telefon – „Hallo, hallo!“ – Keine Verbindung … Ich schaute zu den Rissen … welche Risse? „Da ist ja keine Wand mehr … was soll das, was mache ich jetzt…?“ Gerade als ich das dachte, fiel aus dem Regal über mir ein Einmachglas genau auf meinen Kopf, dann ein zweites, ein drittes, und ich dachte gar nicht mehr daran wegzulaufen … Mir wurde schwindlig… Die Nähmaschine begann sich wie verrückt hin und her zu bewegen, bis hin zur Badezimmertür, dann wieder zurück… Ein paar Mal wanderte sie hin und her, und vielleicht hatte sie Erbarmen mit mir, weil mir die Einmachgläser auf den Kopf fielen … Sie gab mir einen Stoß und schob mich unter den Tisch … Dieser Tisch wurde für mich zu einem Lift, der Boden öffnete sich und wir versanken.
Ich konnte nichts sehen, es war finster, ich hatte keine Ahnung, was passiert war… Nichts war zu hören. Ich merkte, dass ich keinen Platz hatte mich zu bewegen, aber meine Beine waren frei. „Mein Arm, warum kann ich ihn nicht herausziehen? Er steckt irgendwo fest … es ist sehr unbehaglich hier.“ – Oh Mannomann, nicht einmal weinen konnte ich, wegen einer unwichtigen Thermoskanne hatte ich sosehr geheult, jetzt aber war es finster, staubig, in meinem Mund irgendein Dreck, ich wusste nicht, wo ich war und konnte nicht weinen … Ah, jetzt kapierte ich: „Das ist der Staub, auch das Atmen geht schwer.“ … Der Platz, wo mein Kopf lag, war hart. Mit der linken Hand zog ich einen meiner Hausschuhe aus und legte ihn unter meinen Kopf … Ich mochte meine Hausschuhe sehr, weil auf ihnen in Lateinschrift die Buchstaben AB geschrieben waren… Die andere Hand irritierte mich sehr, ich konnte sie nicht herausziehen … „Ahhh“, fiel mir ein, „Ich bin ja unter dem Tisch, ich werde ihn mit dem Rücken wegdrücken, um ‘rauszukommen.“ Ich versuchte es einmal, zweimal – keine Chance. Ich lag ruhig da und wollte unbedingt schlafen… Ich schlief (später sagten sie, dass ich ohnmächtig gewesen war). Ich schreckte auf wegen einer weinenden Stimme. Ich dachte: „Was für eine Stimme ist das? Es klingt wie die Stimme eines kleinen Kindes.“ … Wieder überkam mich der Schlaf. Als ich erwachte, war die Stimme des Kindes nicht mehr da… Ich hatte lange geschlafen, vielleicht hatten sie das Kind mitgenommen und mich nicht bemerkt. Ich schlief erneut ein …"